Nächtliches Einnässen gehört zu den häufigsten, wenn auch oft verborgenen Störungen im Kindesalter. Der Urologe Dr. med. Jamil Alsaaydeh erklärt die Ursachen und gibt Tipps im Umgang mit Bettnässern.
Dr. med. Jamil Alsaaydeh
Urologe in der Gruppenpraxis Ärzte am Graben in Winterthur
Bettnässen wird häufig mit Harninkontinenz gleichgesetzt. Wie grenzt sich das eine vom anderen ab?
Beim Bettnässen – der sogenannten Enuresis nocturna – handelt es sich um das alleinige und wiederholte Einnässen im Schlaf. Es liegen also weder andere Symptome am Tag noch Harnwegsinfekte vor. Kindliche Inkontinenz dagegen bezeichnet jeden unkontrollierten Urinverlust – auch tagsüber. Dieser kann allein auftreten, manchmal aber auch mit häufigem oder nicht unterdrückbarem Harndrang sowie Brennen beim Wasserlassen.
Ab wann empfehlen Sie eine Abklärung beim Arzt?
Wenn das Einnässen nach dem 5. Geburtstag fortbesteht, sollte man den Kinderarzt oder Urologen aufsuchen. Am Anfang der Untersuchung steht jeweils ein ausführliches Gespräch. Dabei kann ein Protokoll, in dem man Trinkmengen, Ausscheidungen und Pipi-Unfälle auflistet, wichtige Hinweise liefern. Zudem kann eine körperliche Untersuchung angebracht sein, um organische oder nervliche Erkrankungen auszuschliessen. Je nach Schweregrad sind auch aufwendigere Verfahren wie Ultraschall, Harnstrahl- oder Blasendruckmessung sowie eine Untersuchung des Beckenbodens ratsam.
Eltern möchten in solchen Situationen ihre Kinder unterstützen. Wie führt man das Kind am besten ans Trockensein heran?
Idealerweise motiviert man sein Kind dazu, regelmässig, frühzeitig und vor allem ohne Eile aufs WC zu gehen. Beim Toilettengang ist eine stressfreie, angenehme Umgebungssituation wichtig und eine Sitzhaltung, die hilft, den Beckenboden zu entspannen. Dazu stellt man am besten die Füsse locker auf den Boden, sodass die Oberschenkel parallel zum Boden verlaufen. Je nach Körpergrösse ist auch ein kleiner Schemel hilfreich.
Was sind mögliche Ursachen für das nächtliche Einnässen?
Hier sind viele Faktoren im Spiel, auch eine genetische Veranlagung. Wenn beide Elternteile Bettnässer waren, beträgt laut Studien das Einnässrisiko bei den Kindern fast 75 Prozent. Ebenso kommen hormonelle Unregelmässigkeiten infrage, da diese unter Umständen die Nierenfunktion beeinträchtigen. Auch eine verringerte Blasenkapazität, Schlafstörungen, Stresssituationen oder emotionale Schwierigkeiten können eine Ursache für das Einnässen sein. Ausserdem hat man beobachtet, dass Buben häufiger betroffen sind als Mädchen.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Bettnässer – sofern keine körperliche Beeinträchtigung vorliegt?
Hier sind die Familie und die Motivation des Kindes entscheidend. Häufig helfen bereits eine gründliche Aufklärung und Beratung mit damit einhergehendem Blasentraining sowie das Anpassen der Trinkgewohnheiten – insbesondere am Abend. Zusätzlich hat sich das Führen eines Kalenders bewährt, in dem trockene Nächte zum Beispiel bunt angemalt und belohnt werden. Auch mit Weckapparaten habe ich gute Erfahrungen gemacht. Wenn Tiefschläfer ihre volle Blase nicht spüren, geben diese Alarmsysteme bei den ersten Tropfen Harnabgang ein akustisches oder vibrierendes Signal ab. Manchmal kann auch eine Kombination mit Medikamenten sinnvoll sein.
Haben Sie weitere Tipps für den Alltag?
Es gibt gute Hilfsmittel wie spezielle saugfähige Pyjamahosen, diskrete Windelhöschen oder einen Matratzenschutz. Zentral ist aber, dass man Gelassenheit und Ruhe vermittelt und dem Kind jederzeit motivierend beisteht. Das Wichtigste für einnässende Kinder sind Rückendeckung und Selbstvertrauen. Sagen Sie Ihrem Kind, dass es sich nicht zu schämen braucht und dass Sie es jederzeit unterstützen werden.
Was ist Enuresis nocturna?
Dieser Fachbegriff bezeichnet das regelmässige nächtliche Einnässen (Bettnässen) nach dem 5. Lebensjahr. War das Kind nachts noch nie trocken, besteht eine primäre Enuresis nocturna, die zumeist als Reifungsverzögerung zu verstehen ist und über 80 Prozent der Enuresis-Fälle ausmacht.
Als sekundäre Enuresis nocturna wird das Wiederauftreten des Einnässens bezeichnet, nachdem das Kind bereits gelernt hat, seine Blase zu kontrollieren. In diesem Fall sollten sowohl körperliche als auch psychische Ursachen ausgeschlossen werden.
Pro Kindergartenklasse hat es im Durchschnitt drei Enuretiker, in einer 3. Primarklasse zwei. Bei Jugendlichen beträgt die Rate rund 1 Prozent. Schätzungen gehen schweizweit von ungefähr 80’000 Bettnässern aus.